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  • AutorenbildRuby schreibt

Hassans bester Freund (Teil 1)

Als er in meine Klasse kam, war er nur ein unscheinbarer Junge. Genau so wie ich. Ich hatte jedoch Heimvorteil. Seit Kindesbeinen an besuchte ich diese Schule, wie die meisten hier. Wir kannten uns den größeren Teil unseres Lebens und waren ein eingespieltes Team. Wir wussten, wer unsere Freunde waren, mit wem man sich anlegte, mit wem lieber nicht und welches Mädchen das Schönste der Schule war. Hassan als Neuankömmling war zunächst wie ein Sandkorn in diesem gut funktionierenden Getriebe. Wir wussten nicht, wo wir ihn da unterbringen könnten und zunächst wünschten wir uns einfach, er wäre gar nicht da. Er musste die üblichen Schikanen über sich ergehen lassen. Meick, der M E I C K geschrieben wurde, der stärkste Typ unserer Schule und einer von der Sorte, mit dem du dich lieber nicht anlegtest und bei dem deine beste Strategie war, möglichst unauffällig zu bleiben, hatte Hassan sofort auf dem Kieker. Zwar war Hassan vom Wesen her so unauffällig und unscheinbar wie ich, doch als Neuankömmling nützt dir das nichts. Du stehst quasi auf einem Podest mit einem Schild um den Hals, auf dem „Tritt mich!“ steht. Zunächst begnügte sich Meick damit im Vorbeigehen „versehentlich“ Hassans Sachen vom Tisch zu fegen. Als Hassan demütig und ohne sich zu beschweren schnell seine bunten Stifte wieder vom Boden einsammelte, trat Meick gerne nochmal unter Gekicher der Klasse und Unachtsamkeit der Lehrer nach. Hassan sah nach diesen fast täglichen Tritten in seinen Hintern oder in seine Rippen kurz zu Meick hoch, mit diesem schleierhaften Blick, der kaum zu deuten war. Ich versuchte immer zu erkennen, ob er gedemütigt war, gleichgültig, wütend oder ängstlich. Aber ich konnte diese großen braunen Augen nicht deuten. Natürlich lachte ich mit dem Rest der Klasse. Wenn Meick einen Scherz machte, lachte man besser enthusiastisch mit und hoffte, dass Meick das mitbekam. Aber während ich lachte, schossen mir all diese Gedanken durch den Kopf. Was Hassan jetzt wohl denken mochte. War das hier schlimmer als Krieg? Hatte er schlimmere Sachen im Krieg gesehen und das hier war jetzt ein Spaziergang für ihn oder war es schlimmer aus dem Krieg in den Frieden zu kommen um dann festzustellen, dass der Frieden nicht besonders friedvoll ist. Als die Sitzordnung geändert wurde, änderte sich gleichermaßen die Dynamik zwischen ihm und mir. Hassan und ich teilten uns fortan einen Tisch und manchmal fragte er mich schüchtern nach einem Radiergummi oder Anspitzer. Ich fühlte mich beim Verleihen meiner Schreibutensilien unglaublich großzügig und eine wohlige Wärme durchströmte mich. Zunehmend fühlte ich mich verantwortlich für Hassan. Außerdem war Hassan nicht auf den Kopf gefallen. Sein deutsch war stolpernd, aber er wusste mehr als ich und verstand mehr als ich von dem, was die Lehrer in unsere Köpfe hämmern wollten. Als Sitzpartner waren wir automatisch Referatspartner und somit zog Hassan meine Noten, jedesmal wenn wir einen gemeinsamen Vortrag hielten, ein wenig nach oben. Meick unterließ seine Schikanen während des Unterrichts, weil er irgendwie spürte, dass Hassan nicht mehr alleine war. Dies zusätzlich gab mir das Gefühl ein großer, starker Beschützer zu sein. Von einem Niemand zu wem Wichtigen. Auch das ließ innige Gefühle zu Hassan in mir wachsen. Natürlich war ich kein großer starker Held und das wurde in jeder Pause klar, in der Meick und zwei seiner großen starken Kumpels sich vor Hassan aufbauten, ihn schubsten und ekelhafte Sachen über seine Mutter sagten. Meine Rolle war dabei, daneben zu stehen mit meinen Büchern im Arm fest umklammert, den Blick auf den Boden geheftet und die Zähne tief in der Unterlippe vergraben, bis ich den Eisengeschmack von Blut auf der Zunge spürte und warten bis alles vorbei war. Danach sprachen Hassan und ich nie über diese Vorfälle. Das würde die Demütigung nur zu real erscheinen lassen. Es lag nichts Besonderes darin, wie Hassan die Schikanen über sich ergehen ließ. Ohne Gegenwehr, ohne ein einziges Wort, wie die meisten hier und doch....In diesen Augenblicken seiner größten Demütigungen hatte ich immer das Gefühl, dass er etwas heldenhaftes an sich hatte. Ich kann bis heute nicht genau sagen, was diesen Eindruck ausgelöst hat. Ich spürte, ohne es zu verstehen, wen ich da vor mir hatte. Und noch etwas spürte ich. Dass Meick mit dem Feuer spielte.


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