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Hassans bester Freund, Teil 5

Es hieß Hassan sei mit seiner Mutter geflohen. Warum sein Vater nicht mitgekommen war, darüber wurde nicht gesprochen. Darüber machte sich keiner Gedanken. Das bißchen Wissen, das auf den muffigen Korridoren in unserem alten Schulgebäude hin und hergetratscht wurde war, dass Hassan seine Mutter unterwegs während der Flucht irgendwann verloren hatte. Vielleicht auf dem Mittelmeer, vielleicht erst später auf dem europäischen Festland. Und nun war er allein hier in Deutschland. Bei der Frau, die ihn bei sich aufgenommen hatte und nicht seine Tante war. Und erinnerte sich an nichts. 


Es sollte noch einige Zeit dauern bis Hassan und später auch ich die Wahrheit über ihn, seine Fähigkeiten, „die Anderen“ und seine Vergangenheit erfahren würden. Aber der Tag, an dem er von seiner „großen Aufgabe“ erfuhr, war der Tag an dem seine Kindheit zum zweiten Mal endete.


Doch das war wie gesagt noch etwas hin.


In der Zwischenzeit ließ Meick die ganze Nummer aus dem Chemieunterricht natürlich nicht auf sich sitzen. Zwar konnte er Hassan nicht nachweisen oder wissen, dass diese kleine Explosion auf ihn zurückzuführen war, doch seine zwei kleinen Gehirnzellen kombinierten unlogisch, aber folgerichtig, dass er Hassan demütigen wollte, mir eine scheuerte und als Folge selbst gedemütigt wurde. Er gab Hassan die Schuld daran, weil alles mit Hassan angefangen hatte. Donnerstag in der zweiten großen Pause war es soweit. Hassan und ich naschten gerade gebrannte Mandeln aus einer Papiertüte während wir den Flur entlanggingen und über Mathehausaufgaben sprachen. „Nein, X ist keine richtige Zahl, X könnte jede Zahl sein...“, „Wie kann denn ein Buchstabe JEDE Zahl sein? Und wozu braucht man dann noch die anderen?“ erwiderte ich neunmalklug. Plötzlich wurde Hassan gegen die Schließfächer an der linken Wand geschleudert. Meick hatte sich von hinten genähert, ihn an seinem Rucksack gepackt. Und presste ihn gegen die Wand. Seine Stirn berührte Hassans und für einen klitzekleinen, komischen Moment sah es fast so aus als wenn er ihn küssen wollte. Ich verspürte einen kurzen, irren Lachreiz, doch dann rammte Meick Hassan nochmal mit Nachdruck an die Wand und das Geräusch, das Hassans Schädel beim Aufprall machte ließ ihn zusammenzucken und jedes potentielle Kichern schamhaft im Keim ersticken. Ich sah mich hilflos nach Lehrern um, aber fand sich umgeben von schaulustigen Gesichtern älterer Schüler und ein paar jüngeren, die schnell vorbei huschten, um nicht mit reingezogen zu werden. Und während ich mich noch suchend umblickte, teilten sich die Reihen auf fast magische Art und hindurch trat das anmutigste Geschöpf der ganzen Schule. Saskia. Köpfe wandten sich wie von einem Magnet gesteuert von dem Meick und Hassan-Spektakel weg und zu ihr hin. Saskia drängte sich zielstrebig ungeachtet der Blicke zu Meick und Hassan durch und tippte Meick auf die Schulter. Die Umstehenden zogen hörbar den Atem ein. Mädchen wie sie trauten sich was. Saskia war unumstritten das hübscheste Mädchen der Schule. Sie war so schön, dass sich ihr Äußeres jeglicher Beschreibung entzog. Wenn man sie ansah, war man so in ihren Bann gezogen, dass man sich keine Worte für später merken konnte. Das einzige, was sich mit Sicherheit über sie sagen ließ ist, dass Ihr Gesicht unglaublich symmetrisch war. „Hey.“ sagte sie nur. Meick drehte den Kopf doch vergaß aufzuhören, wütend zu gucken. „Das muss doch nicht sein, oder?“ Überrascht und verwirrt, wie er sich zwischen seiner angestauten noch nicht freigesetzten Wut und dieser geballten Ladung optische Harmonie entscheiden sollte, ließ er Hassan langsam los. Hassan war der Schrecken noch anzusehen, er rückte nervös seine Jacke wieder zurecht. Saskia legte ihm fürsorglich die Hand auf den Arm und fragte „Ist bei dir alles ok?“

„Ja, ja. Danke.“ erwiderte Hassan schnell. „Ist nicht so schlimm.“ Diese kleine zwischenmenschliche Geste ließ alle Umstehenden einschließlich mir betreten auf ihre Füße schauen und Meick das Weite suchen. Ich konnte nicht fassen, das ausgerechnet Saskia, die Königin der Symmetrie, meinem Freund gerade beigestanden hatte. Saskia, mit der ich noch nie ein Wort gewechselt hatte, aber die ich schon lange aus der Ferne beobachtete und deren Exfreunde ich zumindest bis zur Nummer drei zurückverfolgen konnte. Mit offenen Mund schaute ich ihr hinterher, wie sie mit ihrer Freundin Ramona an mir vorbei fortging. „Warum hast du das gemacht?“ fragte Ramona sie gerade. „Ich weiß nicht, es musste einfach sein. Hast du dir Hassan schonmal genauer angeschaut?“

„Was meinst du?“

„Er leuchtet irgendwie von innen heraus. Und manchmal schaut er viel zu lange verträumt vor sich hin.“

„Ja und?“

„Und der Gegenstand, auf den er dann so verträumt blickt, bewegt sich.“

„Wie bewegt sich?“ 

„Na, er bewegt sich einfach. Irgendwann hat er mir mal geistesabwesend zu mir geschaut. Ähm....auf meine Bluse. Ich weiß nicht mal, ob er das bemerkt hat.“ Saskia errötete.  


In dem Augenblick wurde mir etwas klar. Eine Wahrheit, die mich noch lange begleiten und einen Schatten auf meine Freundschaft zu Hassan werfen sollte. Es gäbe etwas Cooleres als einen Kumpel mit Superkräften zu haben. Und zwar selbst Superkräfte zu haben.



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